"in der Erde verwurzelt, geöffnet zum Himmel"

Was macht die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) so einmalig?

Ihr Stellenwert im Westen

Dr. med. Rainer Bohlayer

Schulmedizin und Chinesische Medizin ergänzen sich sinnvoll
Wozu brauchen wir eine östliche Medizintradition im Westen? Haben wir doch hier eine hocheffiziente naturwissenschaftliche Medizin entwickelt! Ja, das stimmt und die Schulmedizin ist auch unverzichtbar bei akuten oder lebensbedrohenden Erkrankungen besonders natürlich im Bereich der Krankenhausbehandlung (Abb. 1, hier können Sie alle 5 Abbildungen öffnen), . Aber ihr Erfolg bei körperlichen Krankheiten hat häufig vergessen lassen, dass es im Mensch neben dem Körper auch eine psychische und geistig-seelische Ebene gibt. Vor allem hat sie aber – das früher auch bei uns vorhandene – Bewusstsein dafür verloren, dass diese drei Bereiche eine untrennbare Ganzheit bilden.

Und wenn wir einmal weg von der Klinik und hinein in die Praxen niedergelassener Ärzte schauen, so fällt auf, dass dort die Mehrzahl der Patienten an funktionellen und psychosomatischen Erkrankungen wie z.B. Kopfschmerzen, Allergien, Verdauungsstörungen leiden.In diesem Bereich hat die westliche Medizin ihre Schwächen und betreibt häufig eine nur an den körperlichen Symptomen orientierte Yang-betonte, das heißt oft sehr aggressive Therapie mit der gleichzeitigen Gabe zahlreicher unterschiedlicher Medikamente, die meist dem „Anti“-Prinzip folgen: Antibiotika, Antihistaminica etc. Dabei schießt sie oft unangepasst mit Kanonen auf Spatzen und trifft häufig daneben, d.h. der Patient wird durch zahlreiche Nebenwirkungen belastet.
Die chinesische Medizin dagegen verfügt hier über wirkungsvolle Maßnahmen, die das gestörte Funktionsgleichgewicht wiederherstellen können. Sie stößt die Eigenregulation an, unterstützt nach dem „Pro“-Prinzip die gesunden Anteile und ist sanfter, also yin-betont.

Das westliche Denken
Die Welt der Technik, der klassischen Naturwissenschaften und der Schulmedizin wird bestimmt vom Ursache-Wirkungs-Prinzip (Abb. 2): Jede Erscheinung wird auf eine Ursache zurückgeführt, so entsteht eine eindimensionale lineare Ursachen-Wirkungs-Kette in der Zeit bzw. bis in immer kleinere Dimensionen. Dabei wird nur das zur Kenntnis genommen, was greifbar und messbar ist.
Auch die westliche Medizin folgt dieser Denkweise, sie stellt deswegen den objektiv durch die körperliche und technische Untersuchung erhobenen Befund in den Mittelpunkt von Diagnose und Therapie. Heilung geschieht aber nicht allein auf der körperlichen und biochemischen Lebensebene, die die westliche Medizin erforscht hat – aber wo dann?

Das östliche Denken
Der Mensch lebt in einer komplexen Wirklichkeit, die mit allen Lebewesen, Pflanzen und der ganzen natürlichen Umgebung des Erdballs vernetzt ist und die eben nicht nur eindimensional nach dem erwähnten Ursache-Wirkungsprinzip abgebildet werden kann. Dies ist in der modernen Physik schon seit 90 Jahren bekannt, aber es ist nur wenig in den anderen Lebensbereichen bewusst geworden.
Die alten geistigen Schulen des Ostens und deren Medizintraditionen folgen einem grundsätzlich erweiterten Weltbild, das auf dem Analogieprinzip beruht (Abb. 3). Dabei hat die Chinesische Medizin ihre Theorie und Praxis in vieltausendjähriger Erfahrung am weitesten entwickelt und am feinsten ausgefeilt. Sie hat mit der Theorie der 5 Wandlungsphasen ein komplexes System gegenseitiger Beeinflussung in Regelkreisen entwickelt.
So können die Wechselbeziehungen aller Organsysteme im Inneren des Menschen genauso wie zwischen dem Menschen als Mikrokosmos und der Umwelt des Makrokosmos im Äußeren erklärt werden. Deshalb muss auch das subjektive Befinden des Heilung suchenden Menschen in die Überlegungen einbezogen werden.

Das Leben im Feld zwischen Himmel und Erde
Die TCM hat erkannt, dass die Bedingungen für Gesundheit und Krankheit in einem energetischen Feld liegen, das kontinuierlich vom grobstofflichen Bereich des Körpers über die energetische und psychische Ebene bis in die feinstofflichste geistige Ebene reicht (Abb. 4). Darüber hinaus besteht eine andauernde Wechselwirkung mit der Natur und dem Kosmos, symbolisch mit Himmel und Erde. Das bedeutet auch, dass Krankheitssymptome auf allen diesen Ebenen gleichzeitig zu erwarten sind, die sie immer als Einheit im Blick behält.So sind vor dem Ausbruch unumkehrbarer körperlicher Krankheiten in aller Regel als Warnzeichen frühzeitig auf der energetischen Ebene Regulationsstörungen zu erkennen, die noch erfolgreich behandelt werden können.

Um die Frage von eben wieder aufzugreifen - wo geschieht Heilung? – so können wir nun die Antwort geben: auf allen Ebenen, in allen Tiefen des Lebens, nicht nur auf der körperlichen, sondern auch auf der energetisch-psychischen und der geistigen Ebene. Letztere reicht auch transpersonal über das individuelle Ich hinaus bis zum Ursprung, dem unnennbaren Einen des Dao und des Göttlichen. Diese Ebenen sind jedoch nicht getrennt sondern bilden ein verbundenes Kontinuum. Die Komplexität des Lebens könnte in einem Bild mit dem Wasser in zunehmenden Tiefen des Ozeans verglichen werden: die oberflächliche, bewegte Welle symbolisiert das Individuum und die dunkelste, ruhende Tiefsee steht als Symbol für das unnennnbare Numinose oder Göttliche. Beide bilden eine ungetrennte Ganzheit.

So verstehe ich auch Ganzheitliche Medizin, das Thema meiner Praxis: Mein Anliegen ist es, das Leben und die Krankheit des Menschen, der sich mir anvertraut, in seiner ganzen Tiefe zu erfassen, um Heilung in einem umfassenden Sinn in der Einheit des Lebens möglich zu machen.
Eine ganzheitlich ausgerichtete, tradiertes östliches und modernes westliches Wissen verbindende Medizin gibt dem kranken Menschen seine Eigenverantwortung zurück und lehrt ihn, Vertrauen in die eigene Heilkraft zu entwickeln. Der Patient erfährt, dass er mehr ist als seine Krankheit, er ist trotz seiner Krankheit ein ganzer Mensch. Arzt und Patient erkunden im Dialog die Entstehung der Krankheit und beziehen die ganze Lebensbiographie und die Umwelt mit ein.

Wie kann nun Heilung geschehen?
Auch therapeutisch werden alle Ebenen des Lebens in den gemeinsamen Bemühungen des Patienten und des Arztes um Heilung berücksichtigt (Abb. 5). Der Arzt, der Chinesische Medizin mit psychosomatischen Aspekten westlicher Medizin verbindet, setzt in seinem Behandlungskonzept beispielsweise neben Akupunktur, Arzneipflanzentherapie und einer natürlichen Ernährung nach den 5 Elementen auch die therapeutische Bearbeitung früherer psychischer Verletzungen und weitere Maßnahmen mit ein, die so schön als „Lebenspflege“ bezeichnet werden wie z. B. Qigong sowie eine Lebensweise im Einklang mit der Umwelt.

Die Chinesische Medizin denkt immer an das Ganze und ist deswegen von Haus aus eine ökologische, globale Medizin, die sehr früh die Bedeutung einer intakten familiären, sozialen und natürlichen Umwelt erkannt hat. Heilung bedeutet nicht nur die Wiederherstellung der Harmonie von Yin und Yang im Mikrokosmos des Körpers sondern auch der Resonanz mit dem Makrokosmos der Natur und von „Himmel und Erde“.
             Dann ist der Mensch „ganz“: in der Erde verwurzelt und geöffnet zum Himmel.
Der Präventionsgedanke ist in der TCM uralt: Es gibt zahlreiche Faktoren, die die Gesundheit während des ganzen Lebens positiv beeinflussen. Dazu zählen eine liebevoll erlebte Kindheit und Familie, die familiäre und soziale Unterstützung auch im späteren Leben und die Bewahrung traditioneller und kultureller Werte.

Unser derzeitiges Medizinsystem ist krank und wenig heilsam. Eine Erneuerung kann nicht von der Politik, sondern nur von jedem Arzt, aber auch jedem Patienten selbst ausgehen.
Das heilende Feld einer ganzheitlichen Medizin erschließt sich auch im Innehalten, in der Meditation, im Gebet, in der Begegnung von Herz zu Herz. So kann durch die Bewusstseinsarbeit jedes Einzelnen die heutige Medizin insgesamt über sich hinauswachsen.

In einer zukünftigen Medizin vereinigen sich tiefe persönliche Erfahrungen, Erkenntnisse der westlichen Medizin und moderner Quantenphysik mit der Weisheit alter heilkundlicher und spiritueller Traditionen. Gemäß dem holistischen Prinzip, das besagt, dass ein neues Ganzes mehr ist als die Summe seiner Einzelbestandteile, wird auch sie mehr sein als eine Erweiterung der Methoden und neue Bewusstseinsebenen eröffnen.

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                              Laotse